Plastik aus Holz

... oder was Ilsfeld und Nairobi verbindet


Romolo Stanco, Green Latern / TECNARO
Romolo Stanco, Green Latern / TECNARO

 Die schwäbische Tüftler-Firma Tecnaro in Ilsfeld bei Heilbronn könnte ein weltweit brennendes Problem lösen. Genau dorthin führte eine Betriebsbesichtigung der beiden SDW-Kreisverbände Rems-Murr e.V.  und Schwäbisch Hall.

Während Staaten aus aller Welt im Rahmen der Uno-Konferenz zeitgleich eine Woche lang in der kenianischen Hauptstadt Nairobi darüber beraten haben, wie die Menschheit das Plastikproblem in den Griff bekommen kann, gibt es die Lösung längst.  Teilnehmer/inne/n des SDW-Betriebsbesuchs in Ilsfeld wurde sie präsentiert.

Bereits seit über 20 Jahren tüfteln die beiden Unternehmer,  Chemie-Ingenieur Helmut Nägele und Fertigungstechniker Jürgen Pfitzer in ihrer Firma TECNARO (TEChnologie NAchwachsende ROhstoffe) erfolgreich an der Lösung, Kunststoffe aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz herzustellen.

1998 als Spin-off-Unternehmen des Fraunhofer-Instituts gegründet, fanden die beiden Erfinder - über einen Umweg in Eisenach - seit 2006 ihren Firmensitz in Ilsfeld.

"Inspiriert hat uns ohne Zweifel der Erdgipfel in Rio 1992, bei dem erstmals ein globales Zeichen gegen den Klimawandel gesetzt wurde," erklärt Jürgen Pfitzer seinen Gästen.

"Unser Beitrag und gleichzeitig unsere Herausforderung war und ist es, aus einem nachwachsenden Rohstoff einen universell einsetzbaren Kunststoff herzustellen, der es qualitativ und von der Bearbeitbarkeit her mit Erdöl-Produkten aufnehmen kann."

Fündig wurden sie beim Lignin, neben Zellulose einem Hauptbestandteil von Holz. Im Laufe der Zeit entwickelten die beiden Tüftler 4.500 verschiedene Rezepturen, mit denen sie praktisch alle möglichen Kundenwünsche erfüllen können.  Natürlich waren die beiden so clever, zeitgleich 12 Patente anzumelden, um ihre bahnbrechende Erfindung gegenüber Nachahmern zu schützen. Neben Lignin kommen zusätzlich verschiedene Naturfasern und natürlich Additive zum Einsatz.

Ihre Bio-Kunststoff-Granulate können in gängigen Spritzguss-Anlagen, wie andere Kunststoffe auch, verarbeitet werden. Mit den "Wunderkörnern" können aber auch "Bio-Plastik"-Flaschen geblasen werden und Plastiktüten hergestellt werden.


Auch Trinkhalme sind gerade "in aller Munde" - "nur dass unsere Trinkhalme aus Biokunststoff problemlos abbaubar sind, also die Umwelt und insbesondere die Weltmeere nicht vermüllen," ist Jürgen Pfitzer sichtlich stolz und ergänzt: "Wir machen gerade fast nichts anderes mehr als Strohhalme." 

Natürlich kann das Bio-Kunststoff-Granulat künftig auch in 3D-Druckern eingesetzt werden, womit sich für die Ilsfelder ein weiterer potenzieller Weltmarkt auftut.

Granulatherstellung (Foto: Tecnaro)
Granulatherstellung (Foto: Tecnaro)

Eigentlich möchte man annehmen, dass Politik und Wirtschaft diese "eierlegende Wollmilchsau" in dem kleinen Ort westlich des Schwäbischen Waldes längst entdeckt haben und in langer Schlange stehen, um an diesem Innovationsschub teilzuhaben und den endlichen Rohstoff Erdöl durch den umwelt-freundlichen aus Ilsfeld abzulösen. Trotz der vielen Produktvorteile "müssen wir immer besser sein als das Original, wenn wir eine Chance am Markt haben wollen", stellt Jürgen Pfitzer nüchtern fest.

Bei der Werksbesichtigung zeigt er, wie aus den natürlichen Rohstoffen flüssiges Holz hergestellt wird, das durch Spritzdüsen zu langen "Holz-Spaghetti" gepresst wird. Gleich nach dem Abkühlen werden diese dann in schütt- und transportfähige Granulatstückchen geschnitten - Rohstoff für unzählige Anwendungen.

Eine lange Reihe von Anwendungsbeispiele präsentiert Jürgen Pfitzer dem staunenden Publikum: High-End-Kopfhörer und -Musikboxen oder Präzisions-Blockflöten. Das Produkt Arboform erreicht eine Dichte, die Holz maximal erreichen kann und ist daher akkustisch ideal. Die Beispielsliste lässt sich beliebig fortsetzen von PC-Tastaturen über Holz-Uhren, Geschirr aus Arboform und Kokosfasern, Gucci-Schuhe, Duplo-ähnliche Spielsteine und anderes Kinderspielzeug, abbaubare Urnen und Särge, Bierkästen, Zahnbürsten, Edding-Stifte, Frisbee-Scheiben, Waldschilder,  Benetton-Kleiderbügel, Kochlöffel, Gucchi-Sonnenbrillen, Getreidemühlen,  Auto-Innenausstattungen, Verpackungssysteme und natürlich die Massenprodukte Strohhalme, Plastiktüten, Kaffeebecher, Folien und Kaffee-Kapseln. "Unsere Kaffee-Kapseln sind qualitativ als einzige mit den in der Herstellung extrem energieaufwändigen Aluminium-Kapseln vergleichbar." Nun wäre nur zu wünschen, dass der amerikanische Filmstar George Clooney ab sofort nur noch für nachhaltige, abbaubare Kaffee-Kapseln Werbung machen möge.

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Einblicke in den Produktionsprozess der Firma TECNARO
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Ausgewählte Produktbeispiele


 Innovativ auch das Aeroponik, ein abbaubbarer Stoff, der zum Transport und zum Pflanzen von Bäumen verwendet wird. Er gibt der Pflanze Halt, saugt Wasser auf und sorgt für eine lange Wasserspeicherung um die Wurzeln. Mit der langsamen Verrottung gibt er sukzessive Wurzelraum frei.

Ein weiterer Beweis für die schier unendlichen Möglichkeiten sind Bio-Fasern, die optisch aussehen wie Seide, und mit denen heute zum Beispiel schon reißfeste Spanngurte hergestellt werden. "Grundsätzlich ist der Einsatz in allen möglichen Textilien denkbar." Sofort einleuchtender Vorteil dieser Faser ist, dass es im Vergleich zu bisherigen Produkten nur einen minimalen Farbeinsatz zur Einfärbung braucht. "Ebenso können wir aus Ligninfasern Kohlefasern herstellen, ein begehrter Rohstoff, wenn es um die Kombination von hoher Festigkeit und geringem Gewicht geht."

Von zunächst völlig unerwarteter Seite gab es Nachfrage nach dem Bio-Kunststoff: Sportwagenfirmen wie Porsche haben erkannt, dass die Model für den Guß von innenbelüfteten Keramik-Scheibenbremsen idealerweise aus dem Biokunststoff quasi im 3D-Drucker hergestellt werden können. Nach dem Guss der Scheiben wird der Biokunststoff einfach verbrannt.  Und im Fahrzeug-Innenraum schickt sich das Produkt Arboform mit edler Holzoptik an, die Walnussvertäfelung von einst zu ersetzen.

Jürgen Pfitzer: "Wir bleiben unserem Nachhaltigkeitsprinzip treu. Unsere Produkte sollen per Kaskaden-Nutzung so oft wie möglich verwendet und recycled werden bis sie am Ende ihrer Nutzung - wie gewöhnliches Holz auch - rückstandsfrei thermisch genutzt, also zur Energiegewinnung verbrannt, werden können. _Selbst das Prozesswasser, das wir zur Kühlung benötigen, wird wiederaufbereitet und im Endlos-Kreislauf wiederverwendet."

"Eigentlich müsste der nächste UNO-Gipfel zu diesem Thema gleich im Schwäbischen Wald stattfinden. Das würde eine Menge CO2 einsparen," ist der Vorsitzende des SDW-Kreisverbands Rems-Murr, Dr. Gerhard Strobel, überzeugt. Darum bleibt den engagierten Öko-Tüftlern aus Ilsfeld zu wünschen, dass sich ihr Beitrag, die Welt zu retten, möglichst rasch herumspricht.

Die SDW-Kreisverbände Rems-Murr e.V. und Schwäbisch Hall zur Betriebsbesichtigung bei der Bio-Kunststoff-Firma TECNARO        (Bildmitte: Geschäftsführender Gesellschafter Jürgen Pfitzer)
Die SDW-Kreisverbände Rems-Murr e.V. und Schwäbisch Hall zur Betriebsbesichtigung bei der Bio-Kunststoff-Firma TECNARO (Bildmitte: Geschäftsführender Gesellschafter Jürgen Pfitzer)

Hintergrundinfos

(Quelle: TECNARO)


  • Rohstoff: Weltweit fallen in der Zellstoff- und Papierindustrie etwa 60 Millionen Tonnen Lignin als Reststoff an, der bei TECNARO als Ausgangsstoff für das Flüssigholz ARBOFORM® dient.
  • TECNARO Werkstoffe bestehen bis zu 100% aus naturbasierten Ausgangs- und Zusatzstoffen.
  • Produkte aus ARBOFORM®  können eine beim Spritzgießen entstehende einzigartige Maserung mit Wurzelholzanmutung haben.
  • Arboform ermöglicht aufgrund seiner geringen Schwindung eine sehr präzise Verarbeitung.

Produktlinien:

  • ARBOFORM® ("flüssiges Holz"): 100% aus den nachwachsenden Rohstoffen Lignin, natürlichen Additiven und Naturfasern
  • ARBOBLEND®: Verschiedene Bio-Polymere, sehr schlagzähe, je nach Zusammensetzung vollständig abbaubare Thermoplaste, die sich sehr genau bearbeiten lassen
  • ARBOFILL®: hochwertige und vielseitig einsetzbare Compounds aus nachwachsenden Rohstoffen und Kunststoffen

Auszeichnungen

  • Green Brand Gütesiegel Germany 2017/2018
  • Best New Product
    für eine Aufbewahrungsbox für Lebensmittel 2013
  • Diesel-Medaille des Deutschen Instituts für Erfindungswesen 2011
  • European Inventor Award 2010
  • ZDF-WISO-Gründerpreis
  • Euro-Mold-Award in Gold 2000
  • Industriepreis 2009
  • VR-Innovationspreis Mittelstand 2007
  • u.a.m.
GreenBrands Award - 3D-Druck-Trophäe GreenBrands Award aus ARBOBLEND
GreenBrands Award - 3D-Druck-Trophäe GreenBrands Award aus ARBOBLEND